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Illusion

eine Space-Opera Kurzgeschichte

Gemini hatte versucht die Wahrheit zu vergessen, sich einzureden, dass sie auf der Carina-Raumstation sicher wäre.

Aber das hier war nur ein Traum, in den sie sich geflüchtet hatte, eine Täuschung, ein Irrglaube.

Oder war das Leben selbst nicht mehr real und die Illusion die Realität? Die Wahrheit jedenfalls bedeutete ihr Ende …

Geminis Blick glitt müde über die quadratischen Köpfe der Hochhäuser, die sich unter ihrem Panoramafenster erstreckten. Unzählige beleuchtete und dunkle Rechtecke zierten die Fronten der metallenen Riesen und eine noch größere Zahl an Menschen befand sich dahinter.
Zwischen den Häuserfronten flogen Shuttles und Gleiter, wie emsige Glühwürmchen ihre geregelten Bahnen. Das dumpfe Rauschen, das die Gefährte verursachten war in Geminis Wohnung nur schwach zu vernehmen. Selbst die unmittelbaren Nachbarn waren kaum hörbar, dafür schien ihre Atmung die zentrale Geräuschkulisse zu bilden.
Dort, vor ihren nackten Füßen, erstreckte sich die Carina-Station. Eine von Menschenhand gebaute Raumstation, die in dem gleichnamigen Nebel ihren Platz gefunden hatte.
Sie bot Millionen von Menschen eine Heimat und galt mittlerweile als unabhängig. Weder zählte sie zu einer der zweidutzend eigenständig agierenden Planetenregierungen, noch zur Erde selbst. Sie war die erste Station, die Gemini je betreten hatte und sie liebte den Anblick des ungefilterten, pulsierenden Lebens. Nichts, außer den Menschen selbst, lebte hier. Nicht die Häuser, nicht die Station, noch gab es einheimische Flora oder Fauna. Trotzdem strotzte diese Station geradezu vor Leben.
Nur hier spürte Gemini diese unverfälschte Ader des Lebens. So deutlich, dass sie sie beinahe berühren konnte.
Gemini wollte hier leben seit sie die Station das erste Mal betreten hatte. Sie wollte hier eine Wohnung und eine Arbeitsstelle, aber es war zu spät für dieses Vorhaben.
Sie hatte keine Zeit mehr.
Gemini verdrängte diesen sich anbahnenden schwermütigen Gedanken und schloss ihre Augen. Nur dadurch hörte sie noch deutlicher ihre eigene Atmung, spürte aber auch die Wärme des Raums und als Kontrast die kühlende Seide auf ihrer Haut.
Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht den Kimono zu schließen. Die beiden Stoffbahnen klafften an der Vorderseite auseinander. Dafür umspielte die Seide ihre Arme und den Rücken. Obwohl die Kleidung kaum nötig gewesen wäre, aber sie liebte die Leichtigkeit dieses Stoffes auf ihrer Haut.
„Du bist heute nicht ganz bei mir, kann das sein?“ Die angenehm raue Stimme erklang dicht hinter Gemini und träge öffnete sie ihre Augen wieder. Ihr Blick folgte dem fließenden Strom des Verkehrs und blieb an einer der Häuserecken hängen.
Es machte weder Sinn dem Mann in ihrem Rücken zu widersprechen, noch zuzustimmen. So oder so, würde er die Antwort schon wissen, bevor sie sie überhaupt dachte.
Eine Hand legte sich auf Geminis spärlich bekleidete Schulter und die Wärme sickerte durch den dünnen Stoff wie Wasser in einen Schwamm.
Bewusst holte sie Luft, als wäre es ihr letzter Atemzug, bevor sie ihre rotgeschminkten Lippen öffnete um doch etwas zu erwidern. „Ich sterbe, Vike.“
Die Hand auf ihrer Schulter drückte Gemini in einer tröstenden Geste. „Ich weiß.“ Natürlich wusste er es. Wieso auch nicht? Schließlich war er seit Anbeginn dieses Desasters an ihrer Seite. Als Einziger stand er ihr bei und sie war ihm mehr als dankbar dafür. Durch ihn fühlte sie sich weniger allein, als sie tatsächlich war.

 

Er machte es irgendwie einfacher und auch in einem gewissen Grad erträglicher.
Gemini kämpfe gegen die sich anbahnende Verzweiflung an und erwog kurz ihre Augen wieder zu schließen.
„Wie lang?“ Sie hatte bis jetzt weder den Wille noch die Kraft gefunden, diese Frage zu stellen. Zwar war sie sich immer noch nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich hören wollte, aber sie spürte unbewusst, wie ihr das Leben unaufhaltsam entwich.
„Es bleibt…“ Vike tat etwas, was für ihn nicht üblich war. Er zögerte. Vielleicht analysierte er, ob sie die Antwort überhaupt verkraften würde oder er ging in Gedanken durch, ob es überhaupt noch Sinn machte es ihr zu sagen. „… noch heute Nacht“, ergänzte er schließlich seinen abgebrochenen Satz und Gemini nickte abgehackt. Das war weniger explizit, als sie es von ihm gewohnt war, aber dennoch zeitlich so stark eingegrenzt, dass die aufkeimende Panik ihr Blut in Eiswasser zu verwandeln schien.
Heute Nacht. Und diese Nacht war bald vorbei.
Nein, sie würde das Ende ihres Lebens jetzt nicht beklagen. Dafür war die Zeit zu kostbar. Sie würde feiern.
„Wie wäre es mit Champagner?“ Gemini könnte dagegen ankämpfen, würde aber dennoch verlieren. Also ließ sie los und verabschiedete sich in adäquater Weise von ihrer Existenz, die so viel mehr hätte sein können. Seichtes Bedauern mischte sich in den unaufhaltsamen Strom von Trauer und Angst. Unzählige verpasste Möglichkeiten, die sie nie genutzt hatte. Viele Erlebnisse, die sie sich für einen späteren Zeitpunkt ihres Lebens vorgenommen hatten. Nichts davon würde sie je erfahren dürfen.
„Sehr gern“, erwiderte Vike zuvorkommend. Gemini spürte den leichten Luftzug, als er sich abwandte, um aus der schwarzverspiegelten Bar in ihrem Rücken eine gekühlte Flasche zu holen.
Wie von selbst legte sie eine Hand auf ihre Schulter, die sich ohne Vikes Berührung sofort wund und schutzlos anfühlte.
Ein glockenheller Ton erklang, als Vike beim Einschenken die Flasche an eines der Gläser stieß. Danach war alles wieder still.
„Ich würde gerne etwas Musik hören. Nur keine klassische Musik, dabei muss ich immer weinen.“ Geminis Blick ruhte nach wie vor auf der Skyline der Raumstation, als sie das tiefe, ansteckende Lachen von Vike hörte.
„Du bist manchmal seltsam, weißt du das?“ Die Belustigung in seiner Stimme war kaum zu überhören und unweigerlich ließ sich Gemini zu einem Lächeln hinreißen.
Es war wirklich etwas bizarr. Vielleicht berührte sie diese Art der Musik so sehr, dass sie es kaum ertragen konnte oder sie fand sie einfach nur außergewöhnlich schlecht.
Einige Momente später erklang eine helle Frauenstimme, die mit sanfter Instrumentalmusik begleitet wurde. Es klang schön und leicht, aber vor allem unaufdringlich.
„Hier.“ Vike erschien neben ihr und hielt ihr eines der zu Dreivierteln mit der goldenen Flüssigkeit gefüllten Gläser hin. Sie spürte seine Gegenwart beinahe körperlich und brauchte ihn dazu weder zu berühren noch zu sehen. Nach weiteren zögernden Momenten, riss sie sich endlich von dem atemberaubenden Anblick zu ihren Füßen los. Langsam drehte sie sich zu dem Mann neben sich, der geduldig und mit einem milden Lächeln auf den Lippen darauf wartete, dass sie ihm das Glas abnahm.
Geminis Finger schlossen sich um das ihr dargebotene Glas und beobachtete sein Lächeln, dass noch eine Spur breiter wurde.  
„Auf das Leben.“ Vike hob sein Glas in einer theatralischen Geste an und Gemini folgte seinem Beispiel. „Auf den Tod.“
„Und auf die Illusion“, ergänzte er mit einem kleinen verschwörerischen Zwinkern und ließ beide Gläser hell erklingen, als sie aneinander stießen.
Der Champagner schmeckte, wie Gemini erwartet hatte. Perfekt.
Genau wie die Einrichtung dieses Apartments, die gefilterte Luft, die Raumtemperatur, die Musikauswahl oder der anschmiegsame Stoff auf ihrer Haut. Selbst der Ausblick auf das Innere dieser Raumstation war eine perfide Perfektion. Bis auf die Raumstation selbst und Vike.
Sie trank einige Schluck der sprudelnden Flüssigkeit, bis sie das Gefühl hatte keine Luft mehr zu bekommen. Erst dann setzte sie das Glas ab und atmete tief ein und aus.
Ihr Blick suchte Vikes dunkelblaue Augen. Einer der wenigen Fixpunkte, die sie im Moment noch zur Ruhe bringen konnten.
Seine blonden Locken, die ihm unordentlich in die Stirn fielen, verdeckten beinahe die Augen unter denen sich einige Fältchen bildeten, je länger sie ihn anstarrte.
Er lächelte immer noch, oder wieder. Gemini erwiderte es unbewusst und fühlte sich augenblicklich um vieles leichter.
„Ich danke dir, Vike.“ Sie war sich nicht sicher, ob ihm ihre eigenwillige Aussprache seines Namens behagte oder nicht. Andererseits würde es bald keine große Rolle mehr spielen.
Sie hatte auch vergessen, ob sie ihm schon in den vergangenen Tagen gedankt hatte oder ob sie es nur einmal zu oft gedacht hatte.
Ihre Erinnerungen waren nur noch bruchstückhaft vorhanden und selbst die klaren Momente waren verschwommen.
Es war eine Nebenwirkung der zu stark dosierten Schmerzmittel.
„Ich weiß.“ Vike verfiel in sein übliches spitzbübisches Grinsen, was ihr sagte, dass sie es wohl schon des Öfteren erwähnt hatte. Amüsiert schüttelte Gemini ihren Kopf und ließ sich von seiner durchwegs heiteren Stimmung gerne anstecken. „Wieso rede ich überhaupt noch mit dir?“
„Das weiß ich auch nicht“, entgegnete Vike belustigt und strich mit den Fingerkuppen in einer liebevollen Geste über ihre Wange.
„Weil ich deine Stimme gerne höre“, klärte Gemini ihn auf und ließ sich anstandslos eine Haarsträhne hinter das Ohr stecken.
„Wieso sind sie heute schwarz?“, fragte der Mann ihr gegenüber, als er eine weitere kinnlange Strähne zwischen die Finger nahm, um sie zu begutachten.
„Es passt zum Kimono.“
„Das stimmt allerdings“, lachte Vike und ließ die Haarsträhne wieder fallen. „Trink aus.“ Seine Aufforderung machte sie unweigerlich stutzig und der heitere Moment war augenblicklich verflogen.

 

Allein die beiden von Vike ausgesprochenen Worte klangen so, als hätte sie keine Zeit mehr. Sie suchte verzweifelt nach einem Anhaltspunkt in seinem Gesicht, fand aber nichts.

 

Gleichzeitig machte ihr Herz einen Sprung. Vielleicht war es nur ihre Einbildung oder ihre Nervosität. Vielleicht lief aber gerade die Zeit ab. Konnte man sterben, wenn man es sich nur einbildete? Sie wollte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt und ein später gab es nicht. Sie setzte ihr Glas an und leerte es, obwohl sie wusste, dass sie nur den Geschmack auf ihrer Zunge genießen durfte und nicht die gnädige berauschende Wirkung, die der Alkohol eigentlich hatte.
Als sie Vike wieder ansah, hatten sich seine Gesichtszüge nicht verändert. Er wirkte immer noch entspannt und beruhigend auf sie.
„Du hast die Aufzeichnungen an meine Eltern und meinen Bruder?“ Eigentlich hätte sie sich diese Frage sparen können. Sie wusste die Antwort darauf schon längst, aber momentan war es ihr ein schier überwältigendes Bedürfnis es aus Vikes Mund zu hören.
Ihre Eltern waren mit die wichtigsten Personen in ihrem Leben, trotzdem nahm sie es ihnen immer noch übel, sie nach dem Sternbild des Zwillings benannt zu haben.
Es war damals, wie heute nicht einmal unüblich seine Kinder nach den alten Sternbildern der Erde zu taufen, aber Gemini hatte sich nie mit ihrem Namen anfreunden können.
Vielleicht fand sie auch die immer und immer wieder erzählte Geschichte, wie sie zu ihrem Namen gekommen war, für zu sentimental und abgedroschen.

 

Ihre Eltern hatten sie ihr zu jedem ihrer Geburtstage erzählt und natürlich sämtlichen Freunden. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Gemini alt genug war, um aus der Wohnung ihrer Eltern auszuziehen. Sie verließ mit ihrer vollendeten Volljährigkeit nicht nur das heimatliche Sternensystem Gliese sondern auch ihren damaligen Heimatplaneten Nepha und zog auf die 22 Lichtjahre entfernte und vollkommen überfüllte Erde.

 

Aus zwei Gründen wählte sie einen Planeten, der im Vergleich zu den überschaubaren Städten von Nepha chaotisch war. Zum einen wollte sie nicht allzu weit von ihren Eltern entfernt leben, aber weit genug, um sich unabhängig zu fühlen und weil die Erde nach wie vor die besten Universitäten im gesamten kolonisierten Raum hatte.
Als sie damals das Raumschiff verlassen und die Erde betreten hatte, ging ihr gerade diese Geschichte nicht mehr aus dem Kopf. Nur dieses eine Mal hatte Gemini lächeln müssen.
Ihre Eltern hatten zum damaligen Zeitpunkt ihren Urlaub auf der Erde verbracht und auf dem Rückflug zu Nepha den Sternenhaufen M35 im Orion-Arm durchquert, der zum Sternenbild des Zwillings gehörte.
Gemini war, während das Schiff den Sternenhaufen passiert hatte, unverhofft und viel zu früh auf die Welt gekommen.
Eigentlich war der Geburtstermin für Wochen später anberaumt, aber sie hatte es eilig gehabt.
So wie alles, was Gemini in ihrem bisherigen Leben gemacht hatte.
Sie wollte die Erste sein.
Immer.
Und genau das hatte sie in diese verdammten Schwierigkeiten gebracht, aus denen sie jetzt nicht wieder heraus kam. Vielmehr würde es ihr Leben kosten ohne das sie weder ihre Eltern, noch ihren jüngeren Bruder ein letztes Mal gesehen oder nur gesprochen hatte.

 

Vielleicht war sie damals doch zu früh ausgezogen. Vielleicht hatte sie ihre Familie auch zu selten besucht.
Jetzt jedenfalls vermisste sie sie schmerzlich. Selbst das gemeinsame viel zu reichliche Frühstück, das ihre Mutter jedes Mal auftischte, wenn Gemini ihre Eltern besucht hatte oder die ausschweifenden und begeisterten Erzählungen ihres Bruders, über den neu begonnen Studiengang fehlten ihr. Gemini hatte im Laufe der Jahre die Übersicht verloren, wie viele Lehrgänge Aik abgebrochen hatte.
Er war zu wankelmütig und hatte zu wenig Durchhaltevermögen. Das hatte sie ihm nicht nur einmal an den Kopf geworfen und jetzt bereute sie es bitterlich.
Aik war eine Frohnatur, wie ihr Vater. Gemini hätte viel getan, wenn sie einen von ihnen jetzt hätte sprechen können. So aber blieben ihr nur die wenigen Worte, die Vike aufgenommen hatte, um ihnen zu sagen, wie sehr sie ihr fehlten und wie wichtig sie ihr waren. Leider gab es keine Garantie, dass ihre Familie Geminis Aufzeichnungen noch in Lebzeiten erhalten würde.
„Ich werde die Aufzeichnungen so lange bewahren, wie es mir möglich ist“, riss Vike sie aus ihren abschweifenden Gedanken und wieder schien ihr Herz zu stolpern. Sie versuchte dem keinerlei Beachtung zu schenken solange sie noch konnte.
„Danke, Vike.“ Sie wiederholte sich, aber es war ihr egal.
„Ich sagte dir, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht“, antwortete ihr Vike eindringlich und legte eine Hand in ihren Nacken.
Gemini nickte und wieder schien ihr Herz einen Schlag auszusetzten.
„Ich glaube, es fängt an.“ Sie flüsterte die Worte beinahe ehrfürchtig, aber eigentlich war es die Panik, die ihr die Kehle zuschnürte und wie eine Flut schäumenden Meerwassers über ihr zusammen brach.
„Du wirst einschlafen, Gemini. Es wird nicht wehtun.“ Seine Worte drangen kaum in ihr Bewusstsein, dafür rang sie viel zu sehr mit dem Bedürfnis Sauerstoff in ihre Lungen zu saugen und kämpfte im gleichen Augenblick mit dessen ausweglosem Scheitern.
„Küss mich nochmal.“ Wieder gab ihre Stimme kaum an, aber Vike verstand sie. Ohne Zögern ließen sie gleichzeitig die Gläser fallen, die lautlos auf dem weichen cremefarbenen Teppichboden landeten.
Dafür schlossen sich Vikes Hände schützend um ihren Körper. Sie spürte wie der warme Druck seiner Berührungen ihr den fließenden Stoff über die Schultern schob und sich seine Lippen auf ihre pressten. Gierig nahm sie jeden noch so winzigen Körperkontakt in sich auf, als wäre es ein Rettungsring, der sie vor ihrem unmittelbaren Verderben schützen könnte.
Sie wusste in diesem Augenblick nicht, ob sie mehr Angst davor hatte, dass er vor ihr ging, oder sie vor ihm.
Haltsuchend presste sie ihre Handflächen auf seinen nackten Bauch und schob sie unter den fließenden Stoff seiner Kleidung.
Sie beschwor verzweifelnd jede noch so kleine Erinnerung an die vergangenen Stunden mit ihm in ihr Gedächtnis. Wie er sie berührt hatte. Wo er sie berührt hatte. Es war alles perfekt gewesen und erinnerungswürdig. Er würde sich lange daran erinnern können, obwohl es für Vike bedeutungslos war, aber für sie hatte es die Welt bedeutet. Die Welt und mehr.
Verzweiflung trieb ihr die Tränen in die Augen und sie schluchzte gegen seinen Mund als sie spürte, dass sie verlor. Ihr Körper wurde taub. Stück für Stück breitete sich eine seltsame Schwerelosigkeit in ihren Gliedern aus.
Die Bilder vor ihren Augen flackerten und verbissen schloss sie die Augen.
„Bleib bei mir.“ Geminis Stimme war ein heiseres Flehen und gequält holte sie Atem.
Sie krallte ihre Finger in seine Haut, nur um ihn bei sich halten zu können, aber er entglitt ihr, wie alles, was diese Illusion ausgemacht hatte.
Unmittelbar fand sie sich in der Realität wieder und hätte verzweifelt aufgestöhnt, wenn ihr die Luft dazu nicht langsam ausgegangen wäre.
„…V.I.K.E. offline. Neustart der virtuellen kybernetische Einheit nicht mehr möglich…“, erläuterte ihr die Schiffs VI. „…Sauerstoff-Niveau in lebensgefährdenden Bereich gesunken. Bitte verlassen Sie das Schiff und begeben Sie sich zu den Rettungskapseln…“
Gemini hätte gerne aufgelacht, aber es entwich ihr nur ein heiseres Krächzen. Die Rettungskapseln waren Schrott, genau wie das ganze Schiff.
Ihr trüber, verschleierter Blick glitt über das defekte Display vor dem Pilotensitz, in den sie sich vor Tagen hatte fallen lassen.
Nur zu gerne hätte sie die knirschende, einige Oktaven zu hohe automatische VI-Stimme abgeschaltet, aber ihre Glieder wollten ihr nicht mehr gehorchen.
Eine weitere Träne rollte über ihre Wange und klärte für einen Moment den Blick in ein zerstörtes Cockpit.

 

Glas war zersplittert und die Displays inaktiv. Einige Kabel hingen von der Decke und manche versprühten in regelmäßigem Abstand einen kleinen Funkenregen. Das Licht des roten Alarms hatte sie schon vor einer Weile abgestellt. Es hatte sie wahnsinnig gemacht. Dafür blinkte nur noch eine rote Lampe auf dem Display, das einmal ihr Pilot bedient hatte.
Er war tot, genau wie die restliche zwanzigköpfige Mannschaft, nur Gemini hatte den Absturz überlebt. Und das war keine Ehre, auf die sie erpicht gewesen wäre, denn sie hatte den Absturz nicht unbeschadet überstanden. Ihr linkes Bein war mehrfach gebrochen und nicht mehr zu gebrauchen, genau wie ihr linker Arm, der nur noch zehn Zentimeter aus ihrer Schulter herausragte, der Rest fehlte.
Als sie nach dem Absturz wieder zu sich gekommen war, hatte sie mit letzter Kraft den Medizinschrank im Flur geplündert und die Notrationen, die sie auf ihrem mühsamen Weg zum Cockpit gefunden hatte, eingesammelt.
Sie hatte das Schott hinter sich versiegelt und den schützenden Schild, der die Atmosphäre im Schiff bewahren würde, so weit verringert, dass es nur noch das Cockpit umfasste. Schließlich war die Lufterneuerung immer wieder ausgefallen, bis die Maschine endgültig den Geist aufgegeben hatte. Somit stand ihre Todesart fest. Sie würde weder verdursten, noch verhungern, sondern ersticken.
Das Notsignal, das automatisch gesendet wurde, sofern noch ein Quäntchen Energie in den Systemen steckte, war für Geminis Rettung bedeutungslos.
Sie war zu weit von der restlichen menschlichen Zivilisation entfernt, als dass sie jemand noch rechtzeitig hätte erreichen können. Gemini befand sich auf einer Expedition, die den inneren Perseus-Arms der Milchstraße erforschen sollte. Seit gut vier Wochen hatten sie die Funkverbindung zur letzten Säule menschlicher Zivilisation verloren.
Gemini hatte sich monatelang auf diese Expedition vorbereitet und jahrelang darauf hingearbeitet, ein Teil eines solch einmaligen Forschungsflugs sein zu dürfen.
Sie hätten die ersten sein können, die im noch unerforschten Raum einen zu besiedelnden Planeten entdeckt hätten oder außerirdisches, vielleicht sogar intelligentes Leben.
Sie hätten die ersten sein können. Aber jetzt war Gemini nicht die Erste die hier starb, sondern die Letzte.
Ihr Schiff war in einem Reflexionsnebel irgendwo im Sternencluster 17.30:51.18 aus dem Hyperraum gefallen und auf einem bedeutungslosen, winzigen Mond ohne Atmosphäre abgestürzt.
Sie befand sich irgendwo im nirgendwo. Und am Ende war doch alles sinnlos gewesen. Es schien ihr, als wäre das Leben selbst eine Illusion.
Geminis Augenlider fielen endgültig zu und der unwiderstehliche Sog der Müdigkeit lockte sie in seine gnädige Umarmung.
Sie hätten Helden sein könne…

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