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Baummutter

eine romantische Kurzgeschichte

Die Baummutter spürte die Angst und den Schmerz der Awaha. Sie schütze die Awaha und doch beging sie einen Fehler.

Sie erschuf eine Schutzwall und zugleich ein Gefängnis. Erst das Opfer zweier Liebender, ließ sie den Fehler erkennen ...

Cover E-Book Baummutter.jpg

Zu Anbeginn der Zeit entfaltete er seine tropfenförmigen Blätter. Noch erschien ihm seine Existenz wie ein steter Fluss voller Harmonie. Er reckte sich in den finsteren Himmel und spürte die klare, kühle Luft, die durch seine Äste blies.

Tief gruben sich seine Wurzeln in das dunkle, feuchte Erdreich. Er labte sich an dem kalten Nass und schmeckte Metall.

Die Berge in der Ferne hatten keine Bedeutung. Genau so wenig wie das Gras oder Moos, dass sich an seinen Stamm schmiegte.

Erst Wassertropfen erregten seine Aufmerksamkeit. Sie prasselten auf ihn nieder und brachten seine Blätter zum klingen und seine Blüten zum leuchten.

Die Zeit floss dahin, brachte ein Summen und Rauschen mit sich. Kleine Tierchen, die ihn kitzelten und sich in seiner Krone verkrochen. Winzige Wesen, die Unterschlupf in seinen Blüten und unter seiner Rinde fanden.

Die Welt pulsierte, hüpfte und tanzte, klopfte und rauschte.

Leben überall.

Sein Wipfel wippte im Einklang mit der Welt.

Zufrieden und behaglich.

Dann kam das Dröhnen.

Er spürte es in den Spitzen seiner Wurzeln. Lange, bevor sie kamen.

Wesen, so viel kleiner als er selbst, aber doch so vertraut, wie seine Freunde in den Wipfeln.

Ihre Haut war dunkel, genau wie der immerwährende Himmel. Ihre Augen so groß und leuchtend, wie das blasse Licht seiner kelchförmigen Blüten.

Die Fühler auf ihren kahlen Köpfen wippten träge im Wind wie seine Äste.

Sie wirkten vertraut, mit ihren dreigliedrigen Körpern, den vier Armen und zwei Beinen.

Und doch klangen sie fremd.

Ihre Flügel, die so filigran und durchsichtig waren wie die seiner Freunde, raschelten leise.

Sie sangen und ratterten und verweilten um seinen damals schon mächtigen Stamm.

Jedes Mal, wenn eine dieser vertrauten und doch fremden Hände ihn berührten, konnte er es spüren: Sie bebten innerlich, zitterten und wanden sich.

Es war unangenehm und nur langsam verstand er ihren Gesang. Sie suchten nach einem Zufluchtsort, nach Sicherheit.

Das Donnern kam näher. Der Boden um ihn herum vibrierte. Lichter jagten über den schwarzen Himmel. So grell und bedrohlich wie Feuer.

Die Wesen unter ihm wurden unruhig und er wusste, was zu tun war. Er würde ihnen Schutz gewähren. Wie den unzähligen Tierchen in seinen Ästen, zwischen seinen Wurzeln und unter seiner Rinde.

Also streckte er sich, bog seine Wurzeln und zwang sie nach oben. Wälzte sich durch das schwere Erdreich, bis seine Wurzelspitzen die Oberfläche durchstießen.

Dann neigte er seine Äste. Weiter, immer weiter, bis sie sich um seine Wurzeln schlangen. Ein dichtes Geflecht bildete sich um seinen Stamm und die ihm Schutzbefohlenen. Hüllte sie ganz und gar ein.

Es kostete ihn Kraft, viel mehr, als er je für möglich gehalten hätte. Dazu kamen die Versuche der Wesen seinen Schutzwall zu durchdringen. Es schwächte ihn noch mehr. Es schmerzte, als sie sein Holz verletzten.

Seine Blüten erloschen und schwebten zu Boden.

Eine nach der anderen.

Seiner Kraft beraubt drohte er in einen tiefen Schlaf zu fallen.

Er hatte die Wesen schützen wollen, aber er hatte sich übernommen.

Langsam verlor er das Gespür für seine Wurzeln oder den Wind in seinen Blättern. Sogar die kleinen Tierchen zwischen seinen Ästen nahm er kaum noch wahr.

Dann berührte ihn eine Hand an seinem Stamm. Warm. Pulsierend. Voller Leben.

Schließlich tat er etwas, was er nie zuvor getan hatte. Aber um diese Wesen zu schützen und zu ernähren brauchte er mehr, als das Wasser und der Wind ihm bieten konnten.

Er wölbte sich um die Hand und spürte das Wesen.

Nein mehr als das, er verstand es.

Seine Gedanken wisperten, schrien und endlich ergaben die Geräusche Sinn.

Furcht aber auch Leben ergossen sich in ihn. Ernährten ihn, füllten ihn aus. Er nahm das Wesen in sich auf. Trank von ihm, labte sich an ihm, bis er es vollständig verinnerlicht hatte. Und mit ihm kamen so viele Erinnerungen und unendlich viele Worte.

Awaha – der Name des Volkes.

Gandali – der Name des Wesens. Nein, ihr Name. Eine Frau.

Und da waren noch mehr Namen, noch mehr Worte.

Ein Mann, der gestorben war, in einem Krieg?

Kinder, die hungerten.

Eine Stadt und Feuer aus dem Nichts.

Nein, niemand sollte bei ihm hungern. Er würde es verhindern. Jetzt, dank dem Wesen, dank Gandali, hatte er wieder Kraft.

Zumindest genug, um seine letzten verbliebenen Blüten zum Leuchten zu bringen und um seine Früchte reifen zu lassen.

Er wollte ihnen Harmonie schenken. Die gleiche Zufriedenheit, die bis jetzt seine Welt ausgefüllt hatte.

Abermals verstrich die Zeit und er stellte fest, dass die Awaha anders waren, als die vielen kleinen Tierchen, denen er bis jetzt Zuflucht gewährt hatte.

Sie gruben die Erde auf und stapelten Steine, bauten daraus Häuser, Straßen und Paläste, bearbeiteten das gefundene Metall, leiteten den See um, brachen seine Äste.

Sie entwickelten sich und er sah zu, nährte sie, behütete sie, war ihre ganze Welt.

 

„Treulose, Ketzerin! Abtrünnige Lichttöterin! Räudige Kiwa eines Weltverleumders!“, dass und Schlimmeres prasselte auf Darween ein. Da schien das faulige Obst und Gemüse, das auf sie nieder regnete, nicht annähernd so demütigend.

Etwas Hartes traf sie am Oberschenkel. Vermutlich ein Stein. Es schmerzte und sie geriet ins Stolpern. Ein Paar ihrer Hände zuckten nach vorn und fanden Halt.

„Sie haben kein Recht dazu, Euer Gnaden“, murmelte Myron verärgert neben ihr. Er war der Einzige, der sich entschlossen hatte, sie auf diesem Martyrium zu begleiten.

Darween hätte es nicht zu lassen sollen.

Mit einem Handpaar hatte er seinen hellblauen Umhang, der ihn als Tempelwache auswies, schützend hinter ihr erhoben, mit dem anderen Paar hielt er seinen ovalen Schild vor ihr. Die meisten Wurfgeschosse fing er somit ab. Aber sie schlugen gegen seine Rüstung. Ein stetes Trommeln in Darweens Ohren, neben den Flüchen und Verwünschungen.

„Sie haben jedes Recht das ihnen zusteht“, erwiderte sie gerade laut genug, damit der Hauptmann sie hören konnte. Ein missbilligendes Schnauben erklang hinter dem metallenen Helm.

„Ihr habt Eure Pflichten in keinster Weise vernachlässigt. Das kann ich bezeugen, wenn der Hohenrat nur zuhören würde. Es ist nicht Eure Schuld, dass die Blüten erlöschen. Die Baummutter stirbt und wir mit ihr. Sie sind nur alle zu blind und verängstigt um das zu erkennen.“

Vielleicht hatte Myron recht, vielleicht auch nicht.

„Achtet darauf, was Ihr sagt, Hauptmann. Manch einer könnte behaupten, Ihr seid ein Ketzer.“

„Ich sage es Euch, Euer Gnaden, und es ist die Wahrheit.“

Womöglich, dachte Darween. Sie hatte für den Himmel der Baummutter gesungen. Bis jetzt hatte es ihr gefallen. Ihre Sterne hatten geleuchtet und die Opfergaben hatten sich auf wenige Dutzend in dieser Generation beschränkt. Aber etwas hatte sich geändert. Erloschene Sterne waren zu ihr herunter geschwebt, genau in ihre ausgebreiteten Hände.

Darweens Blick glitt nach unten. Ihre einst blassblaue Robe hatte hässliche Schmutzflecke bekommen. Der Stoff war besudelt, wie sie selbst. Der Makel würde sich nie wieder entfernen lassen.

Langsam folgte sie dem Weg, der noch vor ihr lag und hob den Blick.

Zwanzig Schritte vor ihr befand sich eine massive Steinmauer, unterbrochen von einem breiten Tor. Zwei Metallflügel standen offen, flankiert von gut Zweidutzend Wachen, und ermöglichte den Zugang zu dem Podest der Läuterung.

Dahinter erhob sich der Stamm der Baummutter.

Breit und unförmig und doch ehrfurchtgebietend. So nahe war Darween ihr noch nie gekommen. Die Steinmauer hielt jeden allzu Abenteuerlustigen davon ab, ihn zu erreichen.

In gleichmäßigen Abständen befanden sich eingelassene Gitter in der rings um den Stamm errichteten Mauer und ermöglichten der Menge einen Blick dahinter.

Als Darween ihre Augen nach oben richtete, machte sie weit in der Ferne die Grenzen ihrer Welt aus. Ein Meer aus blau leuchtenden Sternen.

Ihr Zuhause, der Tempel des Klangs, lehnte an der äußeren Grenze. Sie hatte oft mit den Fingern über die dicken, alten und vernarbten Wurzeln und Äste gestrichen. Dem Gesang der Baummutter gelauscht und miteingestimmt.

Oft war sie weit oben auf einem der Balkone gesessen, hatte zum Himmel aufgeblickt und das Glitzern und Leuchten über ihr beobachtet.

Manchmal war eine der prallen, dunklen Früchte in ihren Schoß gefallen und sie hatte gewusst, dass alles gut war.

Jedes Mal, wenn sie die Blüten der Baummutter zum Leuchten brachte, hatte sie Ehrfurcht ergriffen. So allumfassend wie die Baummutter selbst.

Es war überwältigend zu spüren, wie alt die Baummutter war. Unzählige Jahre waren vergangen, seit ihr Volk hier Schutz gesucht hatte. Aus den einstigen Erzählungen waren nur noch Legenden übrig.

Es war Tausende von Generationen her.

In seltenen Momenten der Stille hatte sie gespürt, welch Anstrengung der Baum auf sich nahm, um sie zu versorgen, und wie viel Leid sie ihm damit zufügten.

Die Awaha waren eine Belastung und doch kümmerte sich die Baummutter um sie.

Sie war ihre ganze Welt, ihre Mutter, aber auch ihr Henker und ihr Grab.

„Nicht jeder hat die Stärke das zu sehen, was direkt vor ihm liegt, Hauptmann.“ Darween blieben am Fuß der steinernen Stufen stehen, die auf das Podest führten.

Die Menge hielt sich außerhalb der Mauer auf. Nur die Beschimpfungen und Flüche drangen noch zu ihr durch. Darween brauchte keinen Blick zurückwerfen, um zu wissen, dass einige der Wachen die schweren Tore hinter ihr geschlossen hatten.

Myron senkte seine Arme. Der Schutzmantel um sie herum verschwand und sie fühlte sich verletzlicher als zuvor.

„Bitte, Euer Gnaden, sagt Ihnen, dass sie falsch liegen.“

Vermutlich wusste der Hohenrat schon lange, dass die Baummutter starb. Ihr Holz wurde morsch, ihr Leuchten blasser, ihre einst süßen Früchte bitter.

Aber, wenn ihr Opfer die Baummutter nur noch ein wenig länger ausharren ließe, dann war ihr Tod nicht vergebens.

Die Welt dort draußen … niemand wusste, wie sie aussah oder ob sie überhaupt noch existierte.

Darween lächelte und wandte ihren Blick zu ihrem Begleiter. Seine Augen leuchteten in einem schwachen Grün. Mehr war durch das Visier seines Helms nicht zu erkennen.

„Sagt ihn, Hauptmann. Nur einmal“, forderte sie Myron auf. Für einen winzigen Augenblick erkannte sie Verwunderung, die über sein Gesicht huschte. Sie wollte nur einmal ihren Namen aus seinem Mund hören.

„Ich könnte nie so respektlos sein, Euer Gnaden.“

„Dann … danke ich Euch für Eure Treue, Hauptmann und entlasse Euch nun aus meinem Dienst.“

„Verzeiht, aber das kann nur der Hohenrat, Euer Gnaden.“

Darween wippte tadelnd den Kopf. So begriffsstutzig kannte sie ihn gar nicht. „Das hat er schon längst. Ich bin keine Klangpriesterin mehr. Aber es wird wieder eine geben und sie wird Eure Verbundenheit und Hingabe genau so brauchen, wie ich.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab, richtete ihre Aufmerksamkeit abermals auf die Stufen und den Podest.

Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen, spürte die Unebenheiten der Steine unter ihren nackten Sohlen und atmete betont langsam die feuchte, kühle Luft ein.

Eine Stufe nach der anderen überwand sie und mit jedem Mal schien es mühsamer zu sein. Atemlos erreichte sie endlich das Plateau. Hell hob es sich von dem dunklen Stamm der Baummutter ab.

Darween fixierte Quosh den Ältesten des Hohenrats. Auf sein Nicken hin lief sie weiter und blieb zwei Schritte vor ihm stehen.

Sie kannte ihn. Er hatte sie oft im Tempel des Klangs besucht, sich mit ihr über die Baummutter und die Lieder unterhalten.

Er war ein gütiger Mann, ein ehrbarer Mann. Sie konnte ihm ansehen, dass es ihm widerstrebte, sie hier zu sehen. Vielleicht, zu einer anderen Zeit, hätte er ihr Leben schonen können. Hier und jetzt jedoch war es unmöglich. Darween wusste das und wünschte es sich dennoch.

Sie hatte ihr ganzes Leben in den Dienst der Baummutter gestellt. Sie sollte es als große Ehre erachten, ihr jetzt auch noch mit ihrem Tod beizustehen. Doch das Verständnis wollte sich nicht einstellen. Stattdessen machte sich Unruhe in ihr breit und Bedauern. Beinahe hätte sie einen Blick zurückgeworfen. Zu Myron.

„Darween“, erhob Quosh seine Stimme, „Oberste Priesterin des Klang Tempels. Euch wird vorgeworfen Eure Position schändlich missbraucht zu haben. Ihr sollt der Baummutter nicht gehuldigt, sondern sie verletzt haben. Als Beweis dafür berichteten mehrere Augenzeugen vom Erlöschen der Sterne während Eurem Gesang. Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?“

Stille senkte sich um sie. Selbst das Geifern der Zuschauer erstarb. Jeder wollte hören, was sie zu sagen hatte.

Nur gab es nichts zu sagen außer eines: „Es stimmt. Die Sterne sind erlosch.“

Abermals begehrten Rufe und Verwünschungen auf. Quosh musste seine Stimme erheben, um fortzufahren.

„Dann ist das Urteil gefällt. Ihr geht den Weg der Läuterung.“ Quosh schien ein stummer Laut des Bedauerns zu entweichen. Darween dankte ihm mit einem kaum merklichen Kopfwippen.

Ihr Blick glitt zur Baummutter. Schnell und schmerzlos. Jedenfalls hoffte es jeder, der diesen Weg gehen musste.

Zwei Wachen traten an ihre Seite. Darween beachtete sie kaum. Genau so wenig, wie die Tatsache, dass ihr die Träger ihrer Robe über die Schultern geschoben wurden.

Kühle Luft streifte ihre Haut. Behandschuhte Hände packten sie, schoben sie vorwärts, dem Stamm entgegen.

Darween stolperte.

Ihre Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen.

Sie wurde umgedreht und mit dem Rücken gegen den Stamm gepresst. Furcht wütete in ihrem Brustkorb.

Die Ungewissheit darüber, wie es sich anfühlen mochte von der Baummutter verschlungen zu werden, brachte ihre Glieder zum Beben.

Die Rinde lag kalt unter ihrer Haut.

Hart und leblos.

Dennoch wusste Darween, dass die Baummutter lebendig war. So lebendig wie sie selbst und doch… Sie hatte Angst. Unsägliche Angst sogar.

In ihrer Panik presste sie ihre Augenlider zusammen. Selbst der Lärm, den die Menge ihretwegen veranstaltete, war unter dem Rauschen in ihren Ohren kaum zu hören.

Ihre Finger waren das Erste, was die Baummutter verinnerlichte. Darween verlor das Gefühl in ihnen. Die Wachen ließen sie los. Jetzt gab es für sie kein Entkommen mehr.

Es hatte begonnen.

Der Weg der Läuterung.

Hoffentlich konnte die Baummutter es ihr verzeihen, dass sie Angst hatte.

Erst das Scheppern von Metall auf Stein begleitet von verwunderten Ausrufen ließen Darween wieder aufsehen.

Da stand Myron. Keine zehn Schritte von ihr entfernt, mitten auf dem Podest. Sein Helm fehlte. Seine leuchtenden Augen waren unbeirrt auf sie gerichtet.

Sein Rundschild lag neben ihm auf dem Boden, genau wie der Umhang und die Brustpanzerung. Gerade zog er sich das aus Blattadern gewebte Hemd über den Kopf, ließ es achtlos auf den Boden fallen und lief weiter. Geradewegs auf sie zu.

Noch bevor sie überhaupt verstand, was er vorhatte, erreichte er sie. Warme Haut legte sich auf ihre. Zwei seiner Hände fanden ihren Platz auf Darweens Wange und ihrem Hals, die anderen an dem Teil ihrer Hüfte, der noch nicht von Rinde überwuchert war.

Niemand hielt ihn auf. Keiner, der sich freiwillig der Baummutter übergab, würde je daran gehindert werden.

Sie hätte es tun sollen, aber sie konnte nicht. Viel zu erleichtert und glücklich war sie darüber.

„Darween…“ Myron hauchte ihren Namen so leise, so ehrfürchtig, als könne er ihn allein dadurch zerbrechen.

Er hatte es tatsächlich getan! Nach all der Zeit.

Obwohl die kalte Rinde der Baummutter sich unbeirrt über ihre Haut legte, obwohl Darween das Gefühl in immer mehr Körperteilen verlor, hatte sie ihre innere Ruhe wieder gefunden.

Der Hauch von einer Zukunft, einem anderen Leben, einem was-wäre-wenn zuckte durch ihren Verstand.

Während Myrons Berührung sie stetig daran erinnerte, dass sie nicht allein war, erleichterte eine ungeahnte Freiheit ihr Herz und eine verschlingende Sehnsucht versengte ihr Innerstes.

Zu einer anderen Zeit, in einer anderen Welt – hätte ihr Leben anders ausgesehen.

Zärtlich legte er seine Lippen auf ihre. Darween schloss die Augen.

Sie ließ sich fallen. In eine immer fortwährende, nie endende Umarmung.

Sich bewusst, dass sie die Schwelle des Todes nicht allein überschritt.

Dass sie Myron an ihrer Seite hatte.

Für immer und eine weitere Unendlichkeit.

 

Erst dann begriff der Baum was er getan hatte.

Zum ersten Mal in seinem langen Leben zum Ende seiner Existenz verstand er, was Sehnsucht und Freiheit bedeutete.

Für einen Baum wie ihn war es selbstverständlich, an ein und derselben Stelle zu beginnen und zu enden. Ohne je auch nur auf den Gedanken zu kommen, seinen Platz verlassen zu wollen.

Aber die Awaha waren anders. Sie waren keine Bäume. Sie waren Wesen, die frei sein wollten.

Jetzt brauchten sie seinen Schutz nicht mehr.

Sie hatten keine Angst mehr.

Endlich.

Also zog er seine morschen Wurzeln zurück.

Es knackte und knirschte.

Holz splitterte und riss.

Mit der letzten Kraft, die ihm die beiden Wesen – Darween und Myron – gegeben hatten, öffnete er seine Zweige. Hob sie hoch und ließ die Welt herein.

Das Leben dort draußen hatte sich entwickelt, die Welt sich verändert. Aber die Awaha würden ihren Platz finden. Jetzt, da sie keine Angst mehr hatten, brauchten sie ihn nicht mehr.

Er ließ sie gehen.

Seine Blüten erloschen.

Er starb.

Zufrieden.

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